Weisheiten und Beweise aus Büchern - hier im Detail dargestellt!
Der Bücherskorpion - Chelifer concroides
unser Bild zeigt ein weibliches Tier. Bücherskorpione sind rötlichbraun und beige gefärbt, äusserst flach und 3 - 4 Millimeter lang. Wenn sie beim Schreiten ihre Scherenarme ausgebreitet frei vor sich her tragen, so können sie eine Länge von 9 Millimeter erreichen.
Bücherskorpione heissen so, weil man sie in Bibliotheken und zu Hause auf dem Bücherbord, zwischen und in Büchern antreffen kann. Allerdings halten sie sich dort nicht aus Gelehrsamkeit oder Bildungshunger auf - und auch nicht, wie man häuftig befürchtet, weil sie Bücher fressen oder anknappern würden. Sie ernähren sich nämlich weder von Papier noch von Leim oder Druckerschwärze, sondern von kleinsten Lebewesen. Sie werden sich nun energisch zur Wehr setzen, lieber Leser, und uns darauf hinweisen, dass ihre Bibliothek, selbst wenn es eine zoologische ist, vornehmlich Bücher und keine Tiere enthält. Wir können ihnen nicht zustimmen. Bibliotheken haben nämlich ihre eigene Fauna, zu der gehören etwa Bücherläuse, Büchermilben und Staubläuse, um nur einige zu nennen, und auf sie macht der Bücherskopion Jagd. Mit den echten Skorpionen haben Bücherskorpione nur äusserlich zu tun. Bei beiden ist das zweite Gliedmassenpaar zu mächtigen Scherenarmen umgebildet, die dem Bücherskorpion die zweite Hälfte seines Namens eintrugen. Unterschiede zwischen beiden gibt es viele. Der tröstlichste ist wohl der, dass der flache Leib des Bücherskorpions abgerundet endet und nicht langgezogen mit dem so gefürchteten Giftstachel wie beim echten Skorpion.
Bücherskorpione sind harmlose und ungefährliche Tiere. Sie besitzen sechst Gliedmassenpaare. Das erste ist winzig klein, trägt Scheren und dient als Mundwerkzeug. In diese Scheren münden Spinndrüsen, und der bewegliche Scherenteil ist als Putzkamm ausgebildet. Das zweite Paar sind die übermächtigen, auffälligen Scherenarme, die für das Verhalten dieser Tiere weit über ihre Funktion als Mundwerkzeuge hinaus wichtig sind. Mit diesen Scheren werden Beutetiere aufgespürt, festgehalten und dann den kleinen Scheren übergeben. In die grossen Scheren münden Giftdrüsen. Wie das Gift eingesetzt wird und wirkt, ist noch ungeklärt. Ebenfalls an diesen Scheren sitzen Tastsinneshaare, mit denen Erschütterungen, Bewegungen und Hindernisse wahrgenommen werden, und darum tragen die Bücherskorpione, wenn sie aktiv sind, ihre grossen Scherenarme immer ausgebreitet, mit offener Schere vor sich her. Der Tastsinn ist das wichtigste Sinnesorgan des Bücherskorpions. Die weiteren vier Gliedmassenpaare sind Schreitbeine. Mit ihnen können sie sich flink vor- und rückwärts bewegen, und darum mussten sie sich von Dr. Kurth den bildlichen Vergleich mit "strebsamen Politiker" gefallen lassen. Bücherskorpione reissen oder beissen ihre Beutetiere auf. Wenn sie sie mit den kleinen Scheren gefasst haben, pumpen sie sie mit Verdauungssaft voll und saugen sie dann aus. Sie leben nicht gerade gesellig.
Wenn sie sich ausserhalb der Paarungszeit begegnen, so fassen sie sich zur Begrüssung mit einer Schere leicht an und gehen dann weiter. Vor der Paarung besetzen die etwas kleineren Männchen 2 bis 3 Quadrat-Centimeter grosse Territorien, die sie mit Duftmarken kennzeichnen. Kommt ein Weibchen in die Nähe dieses Territoriums, so wird es zu einem tanzartigen Paarungsspiel eingeladen, in dessen Verlauf das Mänchen ein gestieltes Samenpaket absetzt, das Weibschen darüberführt und ihm aktiv mit den Scheren die Samenpackung in die Geschlechtsöffnung einführt. Bücherskorpione bauen sich mit gesponnenen Fäden, Sandkörnern und anderen kleinen Objekten Brut-, Häutungs- und Winternester. Im Brutnest legt das Weibchen bis zu 20 Eier, die es allerdings nicht deponiert, sondern in einer Eitasche auf der Unterseite des Körpers trägt. Eigenartig ist, dass die Embryonen nur für die Embryonalzeit einen Pumpmund entwickeln, mit dem sie Nährstoffe aufnehmen, die das Weibchen regelmässig in die Eitasche abgibt. Schon während der Entwicklung durchbrechen die Embryonen die Eihülle in einem bestimmten Alter, fressen sie auf und reifen frei im Eibeutel heran. Nach dem Schlüpfen aus dem Eibeutel bleiben sie noch einige Tage bei der Mutter, werden dann selbständig und wachsen über Häutungen zur Grösse erwachsener Tiere heran. Die After- oder Pseudoskorpione, zu denen der Bücherskorpion gehört, sind eine an Arten reiche Ordnung, und von jeder Art wäre zusätzlich spannendes zu berichten. Etwa von denen, die sich regelmässig an Fliegenbeinen festhalten und so von der Fliege als blinde Passagiere mitgetragen werden. Sie tun dabei der Fliege nichts zuleide, sondern benützen sie lediglich als Transportmittel im Dienste der Verbreitung ihrer Art.
Sollten Sie, lieber Leser, von diesen kleinen Wesen nun so begeistert sein, dass Sie sie halten möchten, so suchen Sie sie nicht allzulange in der Bibliothek. Dort stossen Sie vielleicht auf Lesbares über sie, aber nur mit grossem Glück auf die Tiere selbst. Häufiger sind sie in alten Vogelnestern unter dem Dach zu finden, etwa in denen der Spatzen. Es braucht etwas Geduld, die Nester auf der Suche nach den Winzlingen zu zerpflücken, aber es lohnt sich. Wir jedenfalls haben uns weit über die Zeichnerei und Schreiberei hinaus an useren Bücherskorpionen gefreut. Auch ihre Verköstigung bietet keine Probleme, man kann ihnen nämlich andere "heimliche Untermieter" als Futter vorsetzen, so etwa Silberfischchen.
Der Bücherskorpion wird nach Grzimek systematisch wie folgt eingeordnet:
After- oder Pseudoskorpione - und zu ihnen gehört der Bücherskorpion - sind mit den Echten Skorpionen nicht verwandt. Beide sind in die Klasser der Spinnentiere als eigene Ordnung eingeteilt.
Aus
Heimliche Untermieter
Von allerlei Getier zwischen Keller und Dach
von Jörg Hess, Zeichnungen Regula Hess
Aare Verlag Solothurn, 2. Auflage 1980